Zurück zur Natur

Am kurzen Strand von Dhërmi liegen die Urlauber nebeneinander wie Sardinen. Es ist Mittagszeit, einige schlafen, andere bestellen bei den umher wirbelnden Kellnern Salat oder Fisch. Die ersten Karaffen mit Hauswein werden serviert. Eine junge Frau mit Festivalbändchen am Arm empfiehlt zwei Bekannten den „amazing!“ griechischen Salat. Eine bei Touristen beliebte spanische Weinspezialität allerdings bekommt man in der Strandbar nicht, da kann der Typ oben ohne noch so oft „Sangria?!“ über die Theke rufen. Wie die beiden kommen viele der Gäste aus Großbritannien, denn in Dhërmi findet gerade ein britisches Techno-Festival statt.  

Sie sind aber nicht nur wegen der Musik hier. Der Strand von Dhërmi bietet mit seinem glasklaren Wasser und dem wunderschönen Bergpanorama alles, was es braucht, um einen gelungenen Sommerurlaub zu verbringen. Doch abgesehen von den Festivalbesuchern ist es hier angenehm leer. Ungewöhnlich für die Adria. Weit und breit kein Hotelkomplex, der die Sicht aufs Meer versperren würde. Doch einige Baustellen entlang der Küste kündigen bereits ein Wandel an. Der Tourismus boomt in Albanien. Immer mehr Menschen entdecken das einst ärmste Land Europas. Vergangenes Jahr wurde trotz Corona ein Rekord von 7,5 Millionen Besuchern verzeichnet. Ministerpräsident Edi Rama gefällt das, er will das Land bis zum Ende des Jahrzehnts zum „Tourismus-Champion“ der Region machen.  

Albanien bietet unerschlossene Landschaften, Wanderwege und Großstädte, die noch nicht ins Unbezahlbare gentrifiziert wurden. Fragt man die Briten am Strand, warum sie hier sind, sagen sie: Es ist billig. Viele scheinen auch nach Albanien gekommen zu sein, um sich von den gestiegenen Preisen in der Heimat zu erholen. Ein Mittagessen mit Vorspeise und einem Glas Wein kostet am Strand um die 800 Lek, also etwa acht Euro. Nicht zuletzt ist Albanien vielen Europäern noch fremd, auch das ein Grund, warum das Kala-Festival seit 2018 hier stattfindet. Die Festivalbetreiber suchten nach einem Ort in Europa, der günstig genug ist, damit das Festival Profit abwirft und geheimnisvoll genug, um Raver anzuziehen, die meinen, schon alles gesehen zu haben. Die albanische Regierung begrüßt Projekte wie dieses, denn es spült Geld in die Staatskassen und kurbelt den Tourismus weiter an. Zur Eröffnung des ersten Kala-Festivals erschien sogar der Ministerpräsident. Wer ein Festivalticket kauft, bucht automatisch eins der 30.000 Hotelbetten des kleinen Küstenorts, in dem gerade mal 3000 Menschen leben. Und die nach Hause geschickten Bilder von tanzenden Menschen am Strand ändern das Bild derjenigen, die mit Albanien immer noch Armut, Korruption oder Kommunismus verbinden.  

Filiz Sota ist eine der wenigen Frauen, die in den Restaurants am Strand von Dhërmi arbeiten. Ihr Job ist es, am Eingang die Gäste zu begrüßen und den männlichen Kellnern Beine zu machen, wenn sie trödeln. Im Sommer ist die 25-Jährige jeden Tag hier, sieben Tage die Woche von 11 Uhr vormittags bis kurz vor Mitternacht. An einem Nachmittag nimmt sie sich Zeit und erzählt, wie Albanien sich verändert hat. Der Boom habe vor etwa zehn Jahren begonnen, sagt sie. Dhërmi sei einmal einer der schönsten Strände Albaniens gewesen, wo die Mehrheit der Gäste Einheimische gewesen seien. Jetzt sind es zum größten Teil Touristen. Die Einheimischen haben jetzt zwar Jobs, aber keine Zeit mehr, selbst am Strand zu liegen. Sota sagt, viele Investitionen kämen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Erst Anfang des Jahres schloss der Ministerpräsident Edi Rama einen Zwei-Milliarden-Euro-Deal mit dem arabischen Immobilienentwickler Eagle Hills ab. Der Entwickler soll die Hafenstadt Durres zu einem Tourismus-Magneten umbauen. Gelingt das Projekt, entstehen mehr Jobs wie der von Sota. In Albanien liegt das Lohnniveau immer noch weit unter dem europäischen Durchschnitt. Allein von ihrem eigentlichen Job als Laborchemikerin kann Sota kaum leben. Nicht genug Aufträge, sagt sie, weshalb sie im Sommer zusätzlich kellnern muss. Sie sagt: „Der Tourismus ist gut für die Wirtschaft, aber wir kommen nicht mehr zum Schlafen“.  

Trotz ihrer zwei Jobs kann sich Filiz Sota zum Beispiel das Kala-Festival nicht leisten. Selbst der für die Albaner reduzierte Festivalpass von 100 Euro ist für sie zu viel. Wegen der schlechten Berufsaussichten und der geringen Löhne wollen viele auswandern, laut einer Studie 78 Prozent der jungen Albanerinnen und Albaner. Ganze Dörfer sind mittlerweile verwaist. Kann der Tourismus den Trend stoppen? Sota profitiert zwar von dem neuen Geschäftsfeld, ist aber auch skeptisch. „Die Preise steigen und ich weiß nicht, ob das gut ist.“  

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