Feuerwerk für die Seele

Ich verstehe nicht, warum so viele Berliner über Neujahr die Stadt verlassen. Was wollen die alle in Neapel? In Wien? Oder schlimmer noch, in einer FeWo in Brandenburg? Wie kommen die auf die Idee, dass ein Raclette auf dem Land mehr Sinn macht als Apokalypse in Berlin? Haben die alle nicht verstanden, dass man über Silvester hierbleiben muss, um den eigentlichen Geist der Stadt zu spüren? Die tolle Endzeitstimmung, das romantische Licht, das durch die Altbaufenster fällt, wenn auf der anderen Straßenseite ein Auto ausbrennt. Diese Leute, denen Berlin über Silvester „zu stressig“ ist, die ihre Karren vorsorglich in der Tiefgarage stapeln und dann das Land verlassen, um es sich dieses Jahr einen „gemütlichen Abend“ zu machen, sind mir zuwider. Die haben diese Stadt nicht verdient. Als ob es in den letzten zwei Jahren nicht schon genug gemütliche Abende gegeben hätte.

Ich freu mich schon das ganze Jahr auf Silvester und alle Leute, die hier geblieben sind. Meistens komme ich kurz nach Weihnachten mit Aggressionen von der Familie zurück, die ich erst im Nebel des Neujahrsmorgen loswerde, nachdem ich den letzten Chinaböller gezündet habe. Schon beim Aussteigen am Hbf rieche ich die Vorboten eines guten Neujahrs, ein Hauch von Schwarzpulver liegt in der Nacht. Ich habe etwas übrig für das ABC der Böllerindustrie und bin mir sicher, dass es trotz Verkaufsverbot die oder andere Tonne Sprengstoff über die Grenzen geschafft haben. Wer herausfinden will, wie eine Stadt tickt, muss nur schauen, wie es zu Feuerwerk steht. Das erzählt mehr als jeder Lonely Planet. Nach zwei Jahren Pandemie ist ein gepflegtes Feuerwerk für die Seele ähnlich reinigend wie zwei Wochen Meditationsurlaub auf La Gomera, nur ohne die nervigen Hippies. In Berlin kann ich mich der Apokalypse hingeben und erfahre Erlösung.

Hier kann man, egal wo man ist, eine gute Zeit haben, selbst wenn es der Ullrich am Zoo ist. Keiner trägt Partyhüte, keiner kauft zu wenig Getränke ein und selbst wenn: es gibt es immer und überall einen Späti, der einem wenn man lieb guckt, vielleicht noch einen Kanonenschlag oder einen Vogelschreck dazu verkauft. Auf den Parties gibt es ausnahmsweise mal etwas zu essen. Es kann nicht zu viele Menschen geben. Und aus irgendeinem Grund will niemand über seinen Job oder ETFs reden. Ich wünschte, jeder Tag wäre Silvester. Die Voraussetzungen für einen guten Abend könnten hier nicht besser sein: Die Infrastruktur für Substanzen jeder Art ist in dieser Stadt um Welten besser ausgebaut als das Glasfasernetz. Kein Nachbar kann in dieser Nacht die Bullen rufen und auf Erfolg hoffen. Und es gibt vorurteilslos für jeden die richtige Veranstaltung, zum Beispiel die traditionelle Silvesterparty am Brandenburger Tor, wo sich dieses Jahr so vielseitige Artists wie Marianne Rosenberg, Dieter Hallervorden und der Celebrate-at-the-Gate-DJ Alle Farben nicht zu schade sind aufzutreten, obwohl kein Publikum zugelassen ist. Für alle Unschlüssigen, die noch nicht wissen zu welcher Party sie gehen wollen, hat der Berliner Senat dieses Jahr seine Go-To Partybezirke zur Orientierung veröffentlicht: 53 Verbotszonen, die sicherlich einen Besuch wert sind. Darunter auch Kotti, Sonnenallee und Hermannplatz, wo alles verlässlich immer so aussieht wie eine Spiegel TV Reportage. Viele gute Abende der vergangenen Silvester begannen hier. Schon Stunden vor Mitternacht trüben apokalyptische Schwefelwolken die Sicht. Auf der Straße glühen die Polenböller grün auf, bevor sie laut knallen. Typen stehen in Gruppen auf den Straßen und werfen die Raketen auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo andere Typen Raketen aus der Hand feuern. Wer so dumm ist, sich mit dem Auto über die Sonnenallee zu trauen, wird abgeknallt. Gerade in Neukölln regieren die Unterschiede. Wer hat Geld, wer keins, wer lässt sich beliefern, wer beliefert, wer wohnt auf der schönen Seite des Kanals, wer auf der Häßlichen. Aber heute Nacht sind alle gleich, die sich auf die Straße trauen. Es wirkt fast so als würde sich Neukölln in dieser Nacht seinen Bezirk zurückholen, gegen alle „Bedenkenträger“, die sich in ihren Luxusneubauten und sanierten Altbauwohnungen verschanzt haben. Es ist die Nacht derjenigen, die sonst nichts zu sagen haben.

Volltext hier